Bevor ich diesen Artikel verfasste, suchte ich im Internet nach Artikeln über Zeitfenster. Ich fand viel über Zeitfenster in der Projektplanung, aber auch manches über biologische Zeitfenster. Auf Wikipedia ist vermerkt, dass Zeitfenster in allen Bereichen und Situationen existieren. Der folgende Artikel enthält keinerlei fundamental neue Erkenntnisse. Es geht um persönliche Erfahrungen mit Zeitfenstern.
Insbesondere im Zusammehhang mit der Ulmer Schachgeschichte wurde mir das Phänomen Zeitfenster bewusst. Diese recherchierte und verfasste ich zu größten Teilen in den Jahren 2011 bis 2015. Nur wenige Jahre später wäre das nicht mehr möglich gewesen. Denn zum einen hätte ich aus verschiedenen Gründen weniger Zeit gehabt als zwischen 2011 und 2012 - zu dieser Zeit habe ich vermutlich die meiste Zeit investiert. Vor allem aber leben heute zahlreiche Zeitzeugen nicht mehr, von denen ich sehr viel erfahren habe. Man hätte die Ulmer Schachgeschichte zwar durchaus auch Jahre später verfassen können, doch zahlreiche Details wären durch die Aufschiebung verloren gegangen.
Nun stellt sich die Frage: Wäre die Ulmer Schachgeschichte nicht viel umfangreicher ausgefallen, wenn ich Jahre früher damit begonnen hätte? Diese Frage kann man mit "auf jeden Fall" beantworten, wenn ein anderer diese Aufgabe früher wahrgenommen hätte. Franz Kamleiter verfasste einen kleinen Artikel über die Geschichte dreier Schachvereine Anfang der 80er Jahre. Er hatte Einblick in das inzwischen verlorene ehemalige Vereinsbuch des Schachverein Ulm/Neu-Ulm. Aus diesem Buch hätte man vermutlich noch viel herauslesen können. Wäre die Ulmer Schachgeschichte schon in den 50er oder 60er Jahren verfasst worden, dann hätten auch Zeitzeugen der Vorkriegszeit noch ihre Erfahrungen schildern können.
Doch diese Option kam für mich, der ich 1975 geboren wurde, natürlich nie in Frage. Theoretisch hätte ich wenige Jahre vorher anfangen können - vermutlich ohne großen Nutzen. Denn ich musste selber erst in der Lage sein, ordentlich zu recherchieren, zu strukturieren, zu verfassen - und natürlich brauchte ich auch die notwendige Zeit und das Interesse dazu. Als ich 1998 die Ulmer Schachszene betrat, wollte ich vor allem Schach spielen und bald darauf jüngere Spieler trainieren. Die Geschichte dieser Szene interessierte mich damals noch nicht.
Ich hatte also ein bestimmtes Zeitfenster, in dem ich diese Arbeit vollbringen konnte. Es hatte sich geöffnet, als ich ich auf verschiedene Quellen stieß und dabei relativ viel Zeit und Interesse hatte. Es schloss sich durch den Tod von wichtigen Zeitzeugen und durch den Mangel an verfügbarer Zeit.
Weitaus länger stand mir das Zeitfenster als Jugendleiter des SC Weiße Dame Ulm e. V. offen. 1999 organisierte ich den ersten Ulmer Kinder- und Jugendschachtag, 2001 übernahm ich die Jugendleitung, die ich bis 2019 behielt. Ich zog allerdings schon 1995 in den Ulmer Raum. Von daher stellt sich die Frage, ob ich das Amt nicht schon früher hätte ausüben können. Meine Antwort lautet: Nein. Denn ich hatte noch nicht die Reife dazu, musste an anderen, kleineren Aufgaben mit jungen Menschen wachsen. Was lange Zeit kaum einer wusste: Im Schachclub Burlafingen, in dem ich zuvor war, wollte ich auch in die Jugendarbeit einsteigen. Man gab mir auch die Möglichkeit dazu, aber ich stellte mich als unzuverlässig heraus und trainierte auch nicht gut. Hier war es zu früh, das Zeitfenster hatte sich für mich noch nicht geöffnet. Natürlich unterliefen mir auch beim SC Weiße Dame Ulm in den ersten Jahren zahlreiche Anfängerfehler, dennoch trug die Arbeit Früchte. Insofern hatte ich wohl nicht zu früh angefangen.
Nach meiner Hochzeit konnte ich die Arbeit beim SC Weiße Dame Ulm nicht mehr länger ausüben. Es war Zeit, die Aufgabe an jüngere abzugeben, mein Zeitfenster für diese Aufgabe hatte sich geschlossen.
Ähnliches könnte ich über mein Amt als Bezirksjugendleiter oder meine Anstellung als Lehrer oder über andere Aufgaben schreiben. Was aber hatten alle Zeitfenster gemeinsam?
Zeitfenster sind Chancen: Solange das Zeitfenster offen ist, hat man die Chance, die entsprechende Aufgabe anzugehen. Meistens merkt man an bestimmten Ereignissen oder Situationen, dass "die Zeit reif ist", also dass sich ein Zeitfenster öffnet. Kurz bevor ich mit der Recherche der Ulmer Schachgeschichte begann, erfuhr ich, dass die SAbt TSV Neu-Ulm früher ein eigenständiger Verein war, dessen Ursprünge bis ins 19. Jahrhundert zurückreichte. Bald darauf erfuhr ich von der Existenz zahlreicher alter Akten der SAbt Post SV Ulm, welche große Teile der Geschichte dieser Abteilung enthielten. Da wollte ich alles wissen und erfuhr, dass der Abteilungsgründer Erwin Rieger noch lebte. Dieser erzählte mir bereitwillig alles, was mich interessierte. Immer weitere Türen öffneten sich und boten mir die Chance, immer mehr zu erfahren. Ähnlich lief es als Jugendleiter.
Oftmals sind Zeitfenster mit Personen verbunden, mit denen man gemeinsam etwas voranbringt. Kommen oder gehen sie, öffnen und schließen sich häufig auch die Zeitfenster. Aber auch bestimmte Fertigkeiten können zur Öffnung eines Zeitfensters beitragen: Erst als ich in der Lage war, Akten ordentlich zu verwalten konnte ich die Dokumente für die Ulmer Schachgeschichte systematisch erfassen.
Warten auf den richtigen Augenblick: Manchmal träumt man von etwas Undurchfürbaren und verzweifelt daran, dass es nicht geht. Natürlich kann man nicht alles erreichen, aber manchmal muss man auch einfach nur auf die richtige Zeit warten. Bis dahin hat man Zeit, sich vorzubereiten. Allerdings kann es sein, dass man es selber nicht mehr miterlebt, bis die Zeit eintritt. Charles Babbage hatte bereits die Konzepte für eine voll funktionsfähige Rechenmaschine. Erleben konnte er sie nie.
Nicht festklammern: Wenn man merkt, dass die Zeit vorbei ist, hilft kein Festklammern. Wenn einem bei einer Aufgabe trotz Anstrengungen alles misslingt und keine Verbesserung in Sicht ist, wenn man durch die Tätigkeit nur noch belastet wird, ist das Zeitfenster offensichtlich zu. Vielleicht hat es sich noch nicht geöffnet oder es war offen und hat sich nun geschlossen. Wenn es nun zu ist, kann man nur dankbar dafür sein, dass man die Chance hatte. Es hilft nicht zu verbittern, dass die Zeit nun vorbei ist. Auch ist es alles andere als hilfreich, möglichen Nachfolgern ungebetene Ratschläge zu geben. Solange man für eine Aufgabe zuständig war, hat man nach seinen Überzeugungen Entscheidungen getroffen. Ist jemand anderes dafür zuständig, trifft dieser nun die Entscheidungen nach seinen Überzeugungen.
Welche Zeitfenster werden sich für mich noch öffnen fragt man sich vielleicht? Und wie lange sind sie offen? Wenn man mit seinem Wirken erfolgreich sein will, sollte man auf jeden Fall das Öffnen und Schließen von Zeitfenstern richtig einschätzen können.