Ruhepunkt

Parabeln

Inhaltsverzeichnis


Trigger-Warnung: Diese Geschichte enthält verstörende Darstellungen von Gewalt, Missbrauch und Traumatisierung in symbolischer Form. Die Lektüre kann für manche Leser belastend sein. Bitte lies diesen Text nur, wenn du dich emotional stabil fühlst. Bei Betroffenheit oder Belastung zögere nicht, dir Hilfe zu holen.

Das Tor zur Hölle

Wenn es um die Hölle geht, denken die meisten Menschen an einen Ort, in dem niemand freiwillig leben möchte. Ein Ort, vor dem sich viele Menschen sogar fürchten. Wer jedoch einmal vor dem Tor zur Hölle stand, wird feststellen, dass es in Wirklichkeit ganz anders ist. Denn die Hölle ist kein abschreckender Ort – im Gegenteil. Magisch zieht sie zahlreiche Menschen an und lockt mit allerlei Annehmlichkeiten. Massen an Menschen, alte und junge, große und kleine, Familien und ganze Schulklassen aus der ganzen Welt ziehen scharenweise durch das Tor zur Hölle ein. Wer nicht mitzieht, verliert Freunde und Bekannte. Vereinzelt gibt es Szenen, in denen Eltern ihre Kinder daran hindern wollen, die dann aber alles dafür tun, um doch hineinzukommen. Sie alle gehen dann einen steilen Weg abwärts und durchqueren das große Tor, welches übrigens von keinem Kerberos bewacht wird. Man kann ungehindert hinein- und auch wieder hinausgelangen. Durch das Tor sieht man von außen schon, wie es in der Hölle zugeht: Lustig und unterhaltsam.

Wer die Hölle betritt, erhält ein spezielles Band, auf dem der eigene Name in leuchtender Schrift geschrieben steht. Diese Schrift kann man von überall in der Hölle lesen. Dagegen ist das Gesicht im Höllenlicht nur schemenhaft erkennbar. Jede Mimik, jede emotionale Regung ist für andere nicht sichtbar. In den alten Schilderungen wurde die Hölle als ein Ort beschrieben, in dem es fürchterlich heiß war, in dem die Menschen im Feuerpfuhl ewig leiden mussten oder von Schlangen gewürgt wurden. Nichts von all dem ist der Fall. In der Hölle gibt es stattdessen viele Freizeitangebote, man kann vor allem Spaß haben. Und man ist jemand! Wer im normalen Leben nichts ist, kann in der Hölle ein großer Star sein, selbst wenn er nur Unsinn redet. Auch kann man viel Zeit mit Schätze sammeln verbringen. Glitzernde Steine in allerlei Formen gibt es überall zu finden und sie wiegen nicht einmal etwas. Man kann also ohne Anstrengung einen Schatz mit tausenden, sogar Millionen dieser Steine mit sich tragen. Zwar haben diese Steine fast nie einen praktischen Nutzen, dennoch sind sie von unschätzbarem Wert. Und so sind viele Menschen in der Hölle vor allem damit beschäftigt, Schätze zu suchen. Sie kommen schon alleine deswegen nicht auf den Gedanken, die Hölle wieder zu verlassen – denn diese Schätze kann man nicht durch das Höllentor mitnehmen. Sie verschwinden einfach beim Hinausgehen.

Eine, die viel über die Hölle und ihr Innenleben erzählen kann, ist die 12-jährige Tabea. Tabea war eine der Kinder, die gegen den Willen ihrer Eltern in die Hölle gegangen war. Auch sie wollte dabei sein, wollte nicht als einzige aus ihrer Klasse zurückbleiben. Nachdem sie lange mit ihren Eltern gestritten hatte, ließen die sie schließlich ziehen. So zog auch sie durch das Höllentor ein. Nachdem sie es durchschritten hatte, drehte sie sich noch einmal um und sah die alte Welt so, wie sie sie kannte. Erleichtert, endlich da zu sein, zog auch sie sich gleich zu Beginn das Höllenband an, damit jeder in der Hölle ihren Namen lesen konnte. In kürzester Zeit war sie umringt von ihren Freunden und Klassenkameraden, die sie so lange nicht mehr gesehen hatte und wurde begeistert empfangen. Gleich zu Beginn fiel Tabea auf, wie schön die Menschen in der Hölle waren. Sie war umringt von märchenhaften Gestalten mit makellosen Körpern. Ihre Freundinnen sahen aus wie Prinzessinnen und ihre Freunde wie Helden aus alten Sagen. Diese wunderbaren Wesen zeigten ihr all die Schätze, die man sammeln konnte und Tabea sammelte, was sie sammeln konnte. Sie liebte die Möglichkeit, sich Wunschmusik live vorspielen zu lassen. Sie genoss die Open Air Kinos, die es in der Hölle in Hülle und Fülle gibt – und alles war kostenlos! Fast immer sah sie sich Komödien an. Dazwischen tauschte sie sich immer wieder mit ihren Freundinnen aus. Und sie hatte großen Spaß daran, mit ihnen gemeinsam Raketen zu schießen. Dies war von vielen Orten aus möglich und kostete natürlich auch nichts. Die Raketen standen einfach da und man konnte sie zünden. Sie flogen dann in bunten Farben durch Luft und landeten irgendwo, zerteilten sich auch häufig. Wenn einer mal an einen Ort geschossen hatte, versuchten die Umstehenden gleich, ihre Raketen zur selben Stelle zu schießen. Tabea verschoss unzählige Raketen und sah ihnen mit Begeisterung nach.

Während sie mit ihren Eltern immer wieder Meinungsverschiedenheiten und Streitereien hatte, erfuhr sie in der Hölle nur Zuspruch. Was auch immer sie sagte, sie wurde dafür gelobt und bestärkt. Bald war sie nur noch umgeben von Freunden, die genauso dachten wie sie. Ja sie war sogar deren Anführerin, wurde auf Händen getragen, in die Luft geworfen und wieder aufgefangen. Es war ein berauschendes Gefühl. Ein Glückserlebnis, wie sie es noch nie zuvor erlebt hatte. Dies war wahrhaftig ein Ort, den sie niemals mehr verlassen wollte.

Tabea sammelte und sammelte. Gelegentlich traf sie andere Personen, die ebenfalls einen riesigen Schatz an glitzernden Steinen hatten. Sie fragte sich, woher sie diese hatten, nachdem sie selbst schon so viele gefunden hatte. Wie viele Steine gab es wohl insgesamt? Auf einmal wurde sie von etwas getroffen. Sie drehte sich um und sah eine Rakete, die gerade heruntergegangen war. "So sehen sie also am Ende aus" dachte sie sich und zog weiter.

Nun war die Hölle ein riesiger Raum, der kein Ende zu haben schien. Tabea zog umher, suchte Schätze und knüpfte immer neue Kontakte. Doch an einem Ort in der Hölle erschrak sie: Sie gelangte zu einer größeren Plattform, auf der ein riesiger Spiegel stand. Sie blickte in den Spiegel und stellte traurig fest, dass sie überhaupt nicht märchenhaft aussah. Sie sah aus wie immer – als einziges Wesen in der Hölle. Während alle anderen makellose Körper hatten, hatte sie immer noch Speck angesetzt und Pickel im Gesicht. Es schien ihr, dass sie sogar noch hässlicher aussah als früher. Sie begann sich zu schämen, weil sie das einzige Mädchen war, das nicht wie eine wunderschöne Prinzessin aussah. Sie fühlte sich wie ein Aschenputtel und versteckte sich jedes Mal, wenn sie anderen Menschen begegnete.

Weil sie an ihrem Aussehen aber nichts ändern konnte, konzentrierte sie sich lieber darauf, Schätze zu sammeln. Sie wollte mehr haben als alle anderen. Dazwischen hörte sie immer und immer wieder Live-Musik und sah Kinokomödien. Als sie wieder einmal in einem Kino saß und sich eine Komödie ansah, geschah etwas Sonderbares: In einer Szene tauchte auf einmal ein kleiner, abstoßend wirkender Dämon auf. Er passte nicht zum Film, tat auch nichts Besonderes. Er lief einfach über die Szene und verschwand dann wieder. Tabea war ziemlich irritiert, doch merkte sie bei weiteren Kinobesuchen, dass dieser Dämon auch hier auftrat, bei allen möglichen Filmen. Auch hier passte er weder zum Film noch zur Szene, er lief einfach nur im Szenenbild herum und tat nichts Besonderes. Irgendwann war er für Tabea schon Normalität geworden.

Nun hatte sie bald gemerkt, dass die Schätze auch wieder verschwanden, wenn sie nicht schnell genug im Einsammeln war. Schon zwei Mal waren riesige, bezaubernd schöne Steine vor ihren Augen einfach in sich zusammengefallen. Sie war völlig frustriert über den Verlust dieser Schätze. Und so tat sie alles, um ihre Suche niemals länger zu unterbrechen. Wenn sie dann doch mal eine Ruhepause einlegte und sich schlafen legte, hetzte sie nach dem Aufstehen umso mehr den Schätzen hinterher. Und immer neue Steine kamen, ein Ende war nicht abzusehen. Sie wurde schon wieder von einem Raketenteil getroffen und gleich darauf noch einmal. Dieses Mal waren die Treffer schon etwas schmerzhaft. Sie ging abermals in ein Kino um sich abzulenken und sah sich eine Komödie an. Der Film gefiel ihr gut, sie hatte selten so gut gelacht. Doch kurz vor Ende tauchte wieder der Dämon im Spielfilm auf. Er lief wieder in der Szene herum, ohne dazuzugehören. Da er für sie inzwischen Normalität geworden war, beachtete sie ihn gar nicht weiter. Doch auf einmal blieb er stehen und blickte Tabea fest in die Augen. Ein Schauder lief ihr über den Rücken. Der Dämon grinste sie auf diabolische Weise an, bis sie schließlich aus dem Kino lief. Ihr Herz raste, sie hatte panische Angst und stellte sich die Frage, wie es den anderen Kinobesuchern gegangen war. Diese waren völlig unbeeindruckt sitzen geblieben. Sie bestellte eine Live-Band, die ihr ein beruhigendes Lied vorspielen sollte. Doch als der Höhepunkt des Liedes gerade gespielt wurde, tauchte wie aus dem Nichts schon wieder der Dämon auf. Er spazierte zwischen den Musikanten umher und verschwand dann wieder.

Sie sammelte weiter, doch auf einmal erfasste sie ein ungeheuerlicher Schmerz an der Stirn. Es war wieder eine Rakete. Und nun erst wurde ihr bewusst, wieviel Leid diese Raketen anrichten konnten. Doch es sollte noch schlimmer kommen. Denn so wie sie zuvor dorthin gezielt hatte, wo ein anderer hingeschossen hatte, so wurde sie nun auf einmal von unzähligen Geschossen getroffen. Ein regelrechter Regen an Geschossen prasselte auf sie nieder. Es waren so viele und so schmerzhafte Geschosse, dass sie Angst hatte, zu sterben. Sie sah neben sich das Höllentor - es bewegte sich mit ihr. Wo immer sie war, war auch das Höllentor nicht weit. Sie sah nach draußen, doch die Welt außerhalb der Hölle sah langweilig und grau aus. Die Menschen draußen wirkten alle sonderbar und fremd. Hier in der Hölle war jetzt ihr zu Hause. Für sie kam es nicht mehr in Frage, diese neue Heimat zu verlassen – schließlich wollte sie nicht alle ihre Schätze wieder verlieren. So rannte sie weg von den Geschossen, die sie jedoch immer und immer wieder erreichten. Auf einmal stolperte sie und fiel. Sie stand auf und sah, worüber sie gestolpert war. Da lag ein toter Mann, dem der Kopf fehlte. Sie schrie auf vor Entsetzen. Schnell rief sie eine Musikkapelle, damit sie durch die Musik von der entsetzlichen Erinnerung abgelenkt würde. Die Musik beruhigte sie auch. Doch als der Höhepunkt des Liedes gespielt wurde, tauchte wieder ein Dämon auf, er sah anders aus als der letzte. Dann auf einmal blieb er stehen und sah sie wieder mit seinem diabolischen Grinsen an. Ihr Herz begann zu rasen, er hörte nicht auf sie anzustarren, bis er schließlich wie aus dem nichts nach einer Kettensäge griff. Er warf sie an, stemmte sie mit einer Hand in die Luft und stürmte damit auf die Darsteller der Komödie. Tabea schrie wie am Spieß vor Angst und Entsetzen und rannte fort.

Sie rannte wie um ihr eigenes Leben, wurde dabei aber immer und immer wieder von Raketen getroffen. Inzwischen war sie von blauen Flecken übersät, hatte sich an den Dauerbeschuss fast schon gewöhnt, wenngleich ihr die Treffer immer noch Schmerzen bereiteten. Sie gelangte wieder an einen lustigen Ort der Hölle, wo man Schätze sammeln und dabei auch noch viel Spaß haben konnte. Hier wollte sie sich ablenken und gleichzeitig ihre Schätze vergrößern. Da gesellte sich ein gleichaltriger Junge zu ihr und fragte sie mit freundlicher Stimme, ob sie auch Schätze suchen wollte. Zu ihrer Überraschung verkündete er ihr, dass er sie wunderschön fand – obwohl sie nicht wie eine perfekte Prinzessin aussah. Sie war glücklich über dessen Gesellschaft und er zeigte ihr viele Tricks, wie man schneller an die Schätze herankommen konnte. Sie nahm seine Hilfe dankbar an und er half ihr, wo immer er konnte. Schließlich reichte er ihr seine Hand – das hatte sie in der Hölle bisher nicht erlebt. Ihr wurde es warm ums Herz bei dieser Geste und sie nahm sie voller Freude entgegen. Doch kaum, dass sich die beiden Hände berührt hatten, verwandelte sich der gleichaltrige Junge in einen geflügelten, riesigen Dämon. Er packte sie mit seinen Krallen und schwang sich in die Luft. Sie schrie wie am Spieß, doch der Dämon flog unberührt immer weiter nach oben und dann tief in die Hölle hinein. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass die Hölle verschiedene Kreise hatte und sie sich bisher nur im ersten Kreis der Hölle befunden hatte. Der Dämon flog in einen inneren Kreis, landete dort mit ihr und riss ihr hier die Kleider vom Leib, hackte mit seinem Schnabel auf sie ein und quälte sie. Ihre Schätze hatte sie nicht verloren, nur halfen sie ihr nichts. Stundenlang war Tabea von dem Dämon misshandelt worden, nun lag sie entkleidet und blutüberströmt am Boden. Der Dämon flog weg und verbot ihr, sich vom Fleck zu bewegen. Falls sie etwas anderes täte, würde er sie holen und beim nächsten Mal noch viel schlimmer quälen. So lag sie am Boden, litt Hunger, Durst und fürchterliche Schmerzen. Sich zu bewegen, traute sie sich nicht. Nach ein paar Stunden kam der Dämon zurückgeflogen und quälte sie wieder. Gelegentlich gab er ihr etwas Ungenießbares zu essen und trinken.

Als sie wieder einmal alleine war, hörte sie auf einmal vertraute, freundliche Stimmen: "Tabea, wo bist du?" Ihr wurde es warm ums Herz, aber sie traute sich nicht zu antworten. War es vielleicht wieder der Dämon, der sie in die Irre führen wollte? Die Stimmen wiederholten sich. Es waren die Stimmen ihrer Eltern und sie kamen aus dem Höllentor, das wie immer neben ihr war. Doch was sie außerhalb des Höllentors sah, war noch schrecklicher als die Hölle selber. Die Menschen, die sich dort bewegten, sahen ebenfalls aus wie Dämonen, die aber noch viel bösartiger wirkten. Und es wimmelte von Ungeziefer. Ein Ekel überkam sie bei dem Gedanken, hindurchzugehen. Und sie fürchtete sich vor der Rache des Dämons, falls er sie bei einem Fluchtversuch erwischen sollte. Da kam er auch schon mit einem fürchterlichen Kreischen wieder zurück. Wie um ihm zu gefallen sagte sie, dass sie geblieben sei, obwohl ihre Eltern nach ihr gerufen hätten. Doch der Dämon belohnte sie dafür in keinster Weise. Im Gegenteil, er geriet in tosende Wut über den Kontakt zu den Eltern und quälte sie noch viel mehr als bisher, hackte mit seinem spitzen Schnabel auf sie ein und zerquetschte ihre Körperteile mit seinen fürchterlichen Krallen. Sie schrie und schrie, doch er hatte nur Freude daran. Als er endlich wieder wegflog, hörte sie wieder die Stimmen ihrer Eltern. Ängstlich sah sie sich um. Sie hatte auch Angst, so von ihren Eltern gesehen zu werden und es ekelte sie vor dem Ungeziefer im Höllentor. Gleichzeitig schien es die einzige Möglichkeit, aus dieser Situation zu entfliehen. Es gab keinen anderen Weg, als den Weg durch das abschreckende Höllentor. Schließlich gab sie sich einen Ruck, stand auf und taumelte auf das Höllentor zu. Sie hörte ein Kreischen über sich. Ihr Herz klopfte rasend. Ängstlich sah sie nach oben, doch sah sie nur schwarz. Dann nahm sie einen letzten Anlauf und stürzte sich durch das Tor, mitten hinein ins Ungeziefer.

Tabea lag voller Verletzungen, blutüberströmt und entkleidet vor dem Tor zur Hölle. Ihre Eltern sahen sie, rannten auf sie zu und wickelten sie in eine Decke. "Passt auf, er kommt gleich und holt uns alle!" schrie Tabea. "Wer denn?" fragte ihre Mutter. "Der Dämon" Es gibt hier keine Dämonen, du bist nicht mehr in der Hölle. Sie umarmten beide ihre Tochter. Dann nahmen sie sie nach Hause und pflegten sie gesund. Doch in ihren Erinnerungen war die Hölle nach wie vor präsent. Sie wachte nachts oft schreiend auf, wenn in ihren Albträumen wieder die Erinnerungen fortlebten. Sie hatte die Hölle verlassen können – vergessen jedoch nie.

Zu den Hintergründen dieser Parabel: Smartphones im Kinderzimmer, Soziale Netzwerke

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Die beiden Schwestern

Vor vielen Jahren, als die Menschen voller Zwietracht und Bosheit waren, als auf der ganzen Erde Unheil herrschte, da lebte eine weise Frau. Sie sagte stets die Wahrheit, zahlte immer ehrlich, war freundlich zu jedermann und tat niemanden etwas zu leide. Viele Menschen in ihrer Umgebung verehrten sie und versuchten so zu leben wie sie es tat. Eines Tages zog die weise Frau aus und versuchte die Menschen davon zu überzeugen, so zu leben wie sie. Wo sie hinkam und die Menschen ihr nachfolgten, da ging es allen besser und da verbreitete sich der Friede.

Doch die weise Frau hatte eine böse Zwillingsschwester. Sie sah genauso aus, hatte die gleiche Stimme und sprach in gleicher Weise wie sie. Aber sie predigte noch viel strenger als ihre Schwester ohne sich selber daran zu halten. Sah sie jemanden, der nicht absolut die Wahrheit sprach oder es beim Bezahlen nicht ganz genau nahm, dann schollt sie ihn und griff ihn aufs Schärfste an. Sie selber aber log auf übelste Weise und betrog die Menschen um große Geldbeträge. Dafür wurde sie von vielen Menschen verachtet, aber noch mehr Menschen handelten nach ihrem Vorbild. Weil aber niemand die beiden Zwillingsschwestern unterscheiden konnte, wurden sie immer beide gleichermaßen verehrt oder verachtet. Viele wussten gar nicht, dass es zwei Schwestern waren und verehrten sie entweder beide – dann kannten sie nur die weise Frau. Oder sie verachteten beide – dann kannten sie nur die böse Zwillingsschwester.

Die weise Frau zog in ein anderes Land, doch auch hierhin verfolgte sie die böse Zwillingsschwester. Und auch hier erkannten nur die wenigsten, dass es zwei Frauen waren und nicht eine. Und auch hier wurden die beiden entweder verehrt oder verachtet – je nachdem, ob die Menschen die weise Frau oder die Zwillingsschwester kannten.

Wo immer die weise Frau auch hinzog, die böse Zwillingsschwester folgte ihr überall hin. Noch heute ziehen sie umher. Die weise Frau war bei der Geburt die Erstgeborene, ihre Eltern nann-ten sie Moral. Ihre Zwillingsschwester nannten sie, weil sie genauso aussah, die Doppelmoral.

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