Ruhepunkt

Ein Brief

Eines Tages erreichte mich ein Brief. Er wirkte wie aus der Zeit gefallen, denn er war von Hand geschrieben. Und das, obwohl mich der Verfasser genausogut über E-Mail oder Whatsapp hätte erreichen können. Ich selber habe bis dahin fast nichts mehr handschriftlich verfasst, schließlich fällt es mir als 10-Finger-Schreiber viel leichter, lange Texte am PC zu schreiben und der Empfänger kann sie auch deutlich besser lesen. E-Mails haben dazu den Vorteil, dass sie nichts kosten und viel schneller den Empfänger erreichen.

Aber dieser Brief änderte mein Denken. Denn ein Brief von Hand geschrieben ist viel persönlicher als ein maschineller Brief oder eine E-Mail. Beim Lesen wird einem bewusst, wie sehr der Verfasser an einen gedacht hat. Ich habe die Zeit noch erlebt, als kaum ein Mensch eine E-Mail-Adresse besaß und ich noch regelmäßig solche Briefe schrieb und empfing. Einen ganzen Ordner voll davon habe ich jetzt. Was war damals anders? Die Verfasser nahmen sich Zeit zum Schreiben. Manchmal blieb ein Brief tagelang liegen, wurde dann weiter geschrieben und irgendwann auf die Reise geschickt. Schließlich kostet das Versenden ja auch Geld. Die Antwort dauerte Tage oder Wochen. Man hatte ja keine Eile. Nicht alles, was ich damals schrieb, war durchdacht. Aber sicherlich war jeder Brief zu Ende geschrieben, hatte neben einer Anrede und einer Unterschrift ganze Sätze und nicht nur Wortfetzen. Ein solcher Brief ging auch nie unter wie heutige E-Mails, bei denenen man befürchten muss, der Empfänger nimmt sie in der Flut von E-Mails gar nicht wahr. Ganz nebenbei ist er auch sicherer davor, abgefangen zu werden.

Natürlich kann man auch E-Mails sorgfältig schreiben, kann sie grundsätzlich mit Anrede und Grußformel versehen. Ich denke über den Inhalt meiner E-Mails viel mehr nach, als über die Briefe von früher. Die Worte einer E-Mail können genauso viel bewegen wie die eines Briefes. Doch die Handschrift gibt dem Brief einen unersätzlichen Beigeschmack. Denn die Handschrift ist einzigartig. Der Brief wird dadurch zu etwas unverwechselbarem, handfesten; ein kleiner Schatz, den man in den Händen halten kann. Die Arbeit des handschriftlichen Schreibens ist ein Zeichen, dass der Verfasser wirklich an den Empfänger denkt.

Es wäre unsinnig, den gesamten Schriftverkehr auf Handschrift umzustellen. Insbesondere im geschäftlichen Bereich wäre es wohl nur mit Nachteilen verbunden. Auch ein kurzer Informationsaustausch zwischen guten Freunden ist per E-Mail oder SMS sicher die pragmatischere Lösung. Doch will man jemand signalisieren, dass man wirklich an ihn denkt, dann ist ein handgeschriebener Brief sicherlich ein guter Weg. Gerade in der Einsamkeit der Corona-Pandemie kann man durch freundlich gesinnte, handgeschriebene Briefe sicherlich manche Herzen wärmer werden lassen.