Auf dieser Webseite stehen zusammenhangslos einige kleinere Geschichten, die unterschiedliche Alltagsdramen beschreiben - nicht zu vergleichen mit den klassischen Dramen von Schiller, Goethe oder Shakespeare. Doch hat das Dramen schreiben einen Reiz: Man kann alles verarbeiten, was man an negativen Eindrdücken erlebt und erzählt bekommt. Dabei spielt es keine Rolle, ob man selbst davon betroffen war oder ob man es nur gesehen hat. Wenn man dann aber doch einmal die unangenehmsten Seiten eines Menschen kennenlernt, dann kann man ihn anlächeln und sagen: "Danke für die Inspiration!" Die Namen der Personen stehen natürlich in keinem Zusammenhang mit lebenden Personen.
Vorwort: Mein Dank gilt an dieser Stelle einigen Schülern aus der SG 22, die mir Nachhilfe in Jugenddeutsch gaben. Ohne diese Nachhilfe wäre die folgende Geschichte nicht möglich gewesen.
"Ey Jungs, manche Sachen sind ECHT bodenlos. Das fuckt mich so ab. Wir hatten keinen Bock mehr auf den Film, immer das gleiche. Heute haben wir gesagt, Schluss jetzt, reicht. Keinen Tag länger. Ihr wisst schon, um wen es geht? Also, wenn einer die ganze Zeit nur behinderte Scheiße redet, aussieht wie´n Opfer und sich dann auch noch bei den Lehrern einschleimt, dann ist das einfach cringe. Digger, der ist brutal cringe. Wer checkt, der checkt es geht um Rolf. Der Typ ist voll weird. Jeder weiß das, die ganze Schule, die ganze Welt. Der geht jeden auf den Sack. Wir sind Brüder. Und sowas wie der passt einfach nicht zu uns. Ende."
Während der 13-jährige Finn so spricht, boxen, treten und schlagen seine Klassenkameraden Nico, Luis, Matthias und Edwin auf Rolf ein. Sie präsentieren ihre Fähigkeiten im Kampfsport, indem sie in die Luft springen und während des Sprungs Rolf einen Tritt verpassen. Luis ist sogar in der Lage auszuholen, um ihm dann mit den Füßen in den Rücken oder in die Brust zu treten. Silas, der ebenfalls zur Klasse gehört, steht daneben und lacht bei jedem Schlag und bei jedem Tritt auf. Für ihn ist das ganze wie ein Bud Spencer Film – nur live. Auch andere Schüler amüsieren sich und feuern die vier an. Jeder Schlag und jeder Tritt wird von Gejohle begleitet. Am lautesten johlen sie, als Edwin ihm eine Doppelohrfeige mit beiden Händen verpasst. Erst als Rolf anfängt zu weinen, lassen sie von ihm ab, verspotten ihn aber als Pussy und Kind.
Rolf sah sich das Video im Klassenchat immer wieder an. Darunter unzählige Likes und eine immer länger werdende Liste an Kommentaren, welche die Niedertracht der vier Jungen begeistert feierten. Jeder Kommentar und jeder Like verursachten einen inneren Schmerz in ihm, der noch schlimmer war als die Schmerzen durch die Schläge und Tritte. Ausgerechnet Silas hatte die ganze Zeit gelacht. Mit ihm hatte er sich immer gut verstanden, sie hatten sich regelmäßig Witze erzählt. Er hatte ihn immer für einen guten Kumpel gehalten. Aber als er vorhin von vier stärkeren Jungen zusammengeschlagen wurde, da war das für Silas einfach nur lustig. Jedes Mal, wenn er Finns Worte hörte, wurde ihm heiß und kalt. "wenn einer die ganze Zeit nur behinderte Scheiße redet" wiederholte Rolf leise vor sich hin und überlegte, was er denn so Schlimmes gesagt haben könnte. Ja, er hatte im Unterricht gut mitgearbeitet und sich vielleicht auch manchmal bei den Lehrern eingeschleimt. Sein Aussehen fand er selber hässlich. Es ärgerte ihn, dass er so aussah und nicht anders. Warum konnte er nicht wie ein ganz normaler Junge aussehen?
Er stellte sich die Frage, wo dieses Video noch veröffentlicht wurde. Das Video, in dem alle auf ihn einschlugen, bis er weinend davonlief. Wer sah es noch, wer lachte noch darüber? Er wollte am liebsten wegrennen, aber wohin? Er kämpfte schon wieder mit den Tränen.
Da ging die Tür auf und seine Mutter kam herein. Rolf ließ sein Smartphone schnell zwischen den Hosenbeinen verschwinden. "Klappts mit den Hausaufgaben?" "Ja, alles ok." "Hast du schon auf die Englisch-Arbeit gelernt?" "Nein, noch nicht, muss ich noch machen." Sie verließ den Raum wieder. Er atmete auf, sie hatte nichts gemerkt. Er wollte ihr nicht davon erzählen, wollte nicht, dass sie sieht, wie er weint und als Pussy verspottet wird.
Er bekam eine neue Nachricht von Luis: "Morgen bist du gefickt!" Kurz darauf folgte eine weitere von Edwin: "Warum springst du Missgeburt nicht einfach von der Brücke?"
"Alles Gute zum Geburtstag", sagte Andrea Moser und nahm ihre jüngste Tochter Hanna liebevoll in den Arm. "Guck mal, was es Tolles für dich gibt!" Sie stellte ihrer Tochter ein größeres Paket auf den Boden und ließ sie es aufreißen. Hannas größere Geschwister Matteo und Maja sowie ihr Vater Harald sahen neugierig zu. Hanna riss alles Geschenkpapier auf und zog eine Schachtel hervor, auf der ein paar bunte Steine abgebildet waren. "Wow, stark!", stieß Harald hervor. "Was sind das für Steine?", fragte Matteo seinen Vater. "Bausteine", gab der zur Antwort. "Magnetbausteine", ergänzte Andrea. Hanna zerriss auch die Schachtel und eine weitere Plastikpackung, bis sie vor leuchtend farbigen Platten in verschiedenen Farben und Formen saß. Neugierig fing sie an, mit den Steinen herumzuspielen und merkte sehr schnell, dass sie sich gegenseitig anzogen.
Matteo griff ebenfalls nach einem dieser sonderbaren Steine, bemerkte aber nicht, dass Maja gerade diesen eben nehmen wollte. Diese riss ihm energisch den Stein wieder aus der Hand. "Den wollte ich mir gerade nehmen!" Matteos Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Er wollte Maja den Stein wieder wegnehmen. Weil diese mit ihrer Hand aber ausgewichen war, misslang ihm das. Er packte nun mit seiner linken Hand ihren Arm und riss mit seiner rechten Hand das Baustück wieder aus der Hand, woraufhin Maja zu schreien begann. "Darum braucht ihr doch nicht zu streiten", besänftigte Andrea ihre Kinder. Sie gab Maja einen Stein, der genauso aussah und das Spiel ging weiter. Doch für drei Bauwerke gab es zu wenige Bausteine. Hanna als die Jüngste der dreien sah sich hilflos um, nachdem sie keine Steine mehr hatte. Schließlich überließ Maja ihrer jüngeren Schwester die Magnetsteine, mit denen sie gerade noch gespielt hatte. "Heute ist dein Geburtstag, nimm sie ruhig." "Oh, du bist eine ganz tolle große Schwester!" lobte Andrea sie dafür. Matteo nahm sich noch einen von diesen Steinen und vollendete damit sein Bauwerk. "He, die habe ich Hanna gegeben, nicht dir!" empörte sich Maja nun. "Ich wollte nur den einen Stein, ich bin damit fertig." "Ich habe ihn trotzdem nicht dir gegeben, sondern Hanna." Matteo zerdrückte beleidigt sein Bauwerk mit einem Handgriff und schob die Überreste nun ebenfalls zu Hanna. "Sie kann meine ja jetzt auch haben." Nun baute erst mal nur Hanna, doch bald bekam sie Unterstützung durch ihren Vater Harald. "Guck mal, mit den Dreiecken kannst du ein Dach bauen!", und er ergänzte ihren Würfel um ein Dach. Auch Maja half ihrer kleinen Schwester, während Matteo weiterhin beleidigt zusah. "Diese Magnetbausteine sind einfach genial, da möchte man am liebsten selbst wieder Kind sein!" begeisterte sich nun Harald.
"Ja, sie sind super bunt und kreativ, perfekt für die Entwicklung und total sicher für kleine Kinder", ergänzte Andrea strahlend und schaltete dann die Smartphone-Kamera ab, die alles gefilmt hatte. Sie verdrehte die Augen, bevor sie sich an Harald wendete. "Das war ja mal wieder brilliant von dir: Du sagst Wow stark, bevor die Steine überhaupt ausgepackt sind und dann weißt du nicht einmal, dass es MAGNETbausteine sind. "Das ist doch wurscht, ob ich da jetzt Bausteine oder Magnetbausteine sage" "Ja, es ist völlig wurscht, wenn das Magnetische gerade der Clou daran ist. Aber das ganze Video kann man wohl ohnehin wegschmeißen, nachdem unser Märchenprinz Matteo erst mit irgendwelchen kindischen Streitereien angefangen und dann beleidigte Leberwurst gespielt hat. Wenn ich das poste, regnet es nur irgendwelche scheiß Kommentare" "Sollen wir neu aufnehmen?" "Nee, geht nicht, die Schachtel ist zerrissen. Ich könnte höchstens versuchen, die schlechten Szenen rauszuschneiden. Aber es sind wohl zu viele. Kein Werbevideo, kein Geld, Scheiße." "Gut, dann kann ich ja jetzt endlich weiterarbeiten", sprach Harald und verzog sich in sein Arbeitszimmer. Matteo und Maja griffen nach ihren Tablets und spielten Computerspiele, Andrea setzte sich stocksauer mit ihrem Smartphone in den Sessel. Nur Hanna blieb eingeschüchtert vor ihren Magnetbausteinen sitzen und sah gelegentlich zu ihrer Mutter auf, die aber zu sehr mit ihrem Smartphone beschäftigt war und nichts mehr von ihrer jüngsten Tochter mitbekam.
Es war an einem heißen Sommertag, als es klingelte. Marios Mutter öffnete die Tür und fuhr zusammen. Da stand Mario in Begleitung von zwei Polizisten. Sie hatten ihn beim Ladendiebstahl erwischt – er war gerade elf Jahre alt. Er wollte Anerkennung in der Clique. Ein paar Gegenstände hatte er mitgenommen. Gegenstände, mit denen er gar nicht viel anfangen konnte. Für ihn war es vor allem eine Mutprobe gewesen, er wollte kein Feigling sein. Beim ersten Mal hatte es geklappt und er hatte dafür sehr viel Anerkennung bekommen, so viel wie noch nie. Das war für ihn ein Glücksrausch, endlich gehörte er dazu. Sonst war er wegen seiner Körpergröße immer nur als der Kleine verspottet worden. Doch beim nächsten Geschäft hatte der Ladendetektiv ihn festgehalten und die Polizei gerufen. Sie hatten ihn nach Hause gebracht. Fassungslos hatte seine Mutter ihn angestarrt, als die Polizeibeamten mit ihm in der Tür standen. Als er eingetreten war und die Beamten sie wieder allein gelassen hatten, rang sie um Worte. Schließlich hatte sie ihn in sein Zimmer geschickt und dort sicherlich 20 Minuten warten lassen. Sie wollte Abstand gewinnen, sich unter Kontrolle bringen. Aber je länger sie gewartet hatte, desto wütender war sie geworden. Was sie besonders schmerzte: Ihre Eltern und Schwiegereltern hatten ihr immer wieder Vorhaltungen gemacht. Häufig musste sie sich anhören, dass sie ja selbst schuld sei, sie müsste ihm einfach nur Grenzen setzen. Oft dachte sie dann, dass dieser Vorwurf berechtigt sei. Sie erzog Mario im Grunde genommen alleine, denn ihr Mann hatte in seiner Firma eine hohe Position und war ständig im Ausland. Sie arbeitete halbtags, war nachmittags für Mario da. Seine Lehrer hatten sie mehrmals zum Gespräch einbestellt, weil er im Unterricht durch Provokationen störte. Einmal schwänzte er sogar die Schule. Dann unterhielt sie sich jedes Mal ausführlich mit ihm, traf mit ihm Vereinbarungen. Jedes Mal gab er sich reumütig, doch gebessert hatte er sich nie. Die letzten zwei Male wollte sie es nicht mehr bei einem Gespräch belassen, wollte irgendeine abschreckende Sanktion verhängen. Dann hatte er sie mit Vorwürfen verunsichert, dass diese viel zu hart seien. Sie hatte dann jedes Mal nachgegeben, solange bis die Sanktionen nur noch symbolischer Art waren und dann ließ sie es ganz bleiben. Und nun das!
Er hatte sich in seinem Zimmer auf die Bettkante gesetzt und die ganze Zeit vor sich hingestarrt. Schließlich war sie gekommen und hatte sich wütend neben ihn gesetzt. "Was kommt als Nächstes, brichst du dann in Häuser ein?" fragte sie ihn mit langsamer, um Beherrschung kämpfender Stimme. Mario fühlte sich ertappt, zum zweiten Mal an diesem Tag. Denn tatsächlich war Alex, mit 14 Jahren der Älteste aus der Clique, schon woanders eingebrochen, hatte damit vor den anderen geprahlt. Und nach den ersten erfolgreichen Ladendiebstählen von Mario hatte er ihm angeboten, ihn beim nächsten Einbruch mitzunehmen. Er, der Anführer der Gruppe! Mario hatte sich so geehrt gefühlt, dass ausgerechnet er dafür infrage kam. Zumal er der Jüngste in der Gruppe war. Nun saß seine Mutter neben ihm, wartete auf seine Antwort und machte sich Vorwürfe. Vorwürfe, dass sie ihn zu oft gewähren lassen hatte, zu wenig Grenzen aufgezeigt hatte. Gleichzeitig dachte sie daran, welche Vorwürfe sie sich von ihren Eltern und Schwiegereltern wieder machen lassen müsste. Nach einer Weile des Schweigens stellte sie die nächste Frage: "Warum klaust du?" Mario schwieg. Er wollte nicht, dass seine Mutter etwas Schlechtes über seine Freunde dachte. Die Freunde, die er noch nicht lange hatte und die sie noch nie gesehen hatte. Er hatte sie in der Schule kennengelernt, sich beim Busbahnhof regelmäßig mit ihnen getroffen. "Ich will jetzt wissen, warum du klaust" legte sie nach. Doch Mario antwortete auch dieses Mal nicht. Währenddessen wurde seine Mutter immer wütender. Wütend über sein Schweigen, wütend aber auch über sich selbst, weil sie immer nur mit ihm gesprochen hatte, sein Verhalten nie sanktioniert hatte. "Jetzt antworte mir endlich!" fuhr sie ihn schließlich an. Aber das schreckte ihn noch viel mehr ab. Momente des Schweigens vergingen. Dann, auf einmal völlig ungeplant, packte sie ihn am Kragen und legte ihn über ihr Knie. Sie hatte ihn noch nie geschlagen und wollte es auch nie. Sie und ihre Geschwister waren von ihren Eltern oft geschlagen worden. Sie hatten oft Ohrfeigen kassiert und den Hintern verhauen bekommen. Diese Verletzungen hatte sie nie vergessen. Sie hatte auch nie vergessen, wie sie, ihre große Schwester und ihr kleiner Bruder die Gewalt weitergegeben hatten. Ihre große Schwester hatte sie geschlagen und sie hatten beide ihren kleinen Bruder geschlagen – solange, bis er endlich stärker geworden war. Und sie hatten damals andere Kinder geschlagen. Später kamen dann die Schuldgefühle gegenüber ihren Opfern. Schuldgefühle, die sie lange plagten. Auch noch, als Mario geboren wurde, da war sie mit 21 Jahren noch recht jung. Für sie war damals klar: Das durfte sich nicht wiederholen. Mario sollte es besser gehen als ihr und den Kindern, die unter ihr gelitten hatten. Nicht immer war dieser Vorsatz leicht. Ein paar Mal war sie kurz davor gewesen, ihn zu brechen – bei harmloseren Situationen. Jetzt auf einmal hatte sie völlig unüberlegt den ersten Schritt getan. Sie zögerte. Sollte sie wirklich diesen Tabubruch begehen?
Mario lag nun regungslos über ihrem Knie. Sie hatte ihm früher schon erzählt, dass sie als Kind auf diese Weise bestraft worden war. Sie hatte immer wieder betont, wie schlimm das war und dass sie sich vorgenommen hatte, es selbst nie zu tun. Er presste die Lippen zusammen, unsicher, ob sie es nun wirklich täte. Sekunden vergingen, Sekunden, die ihm wie eine Ewigkeit vorkamen. Dann erschrak sie über sich selber und was sie getan hatte. Sie war nur noch einen Schritt davor zu tun, was sie immer verabscheut hatte. Aber sie hatte den ersten Schritt schon getan, wollte nicht noch einmal zurückweichen. Langsam schob sie sein T-Shirt, das über seiner Hose lag, ein paar Zentimeter nach oben in der Hoffnung, dass ihr noch eine Idee kam, wie sie aus dieser Situation ohne Gesichtsverlust wieder herauskäme. "Du wolltest es nie tun!", sagte er auf einmal. Da war er wieder, dieser vorwurfsvolle Ton, den sie schon mehrmals gehört hatte, wenn er wieder viel zu weit gegangen war und sie es nicht bei Gesprächen belassen wollte. Sie stockte kurz. Warum musste sie sich denn immer kritisieren lassen, obwohl er sich unmöglich benahm, fragte sie sich. Nein, das wollte sie sich nicht weiter gefallen lassen. "Ja, ich wollte es nie tun. Aber jetzt tue ich es doch." Ihre Stimme klang aber nicht sicher, sondern verzweifelt. "Du hast es versprochen, nie zu tun!" "Du hast mir schon so vieles versprochen und nicht gehalten. Und versprochen habe ich es übrigens nie!" Er verstummte. Sie zögerte. Sein Gesicht konnte sie nicht sehen. Aber sie spürte an seinem Atem, dass er Angst hatte. Und mit einem Mal, als sie ihn so ausgeliefert sah und seine Angst spürte, genoss sie ihre Macht über ihn. Endlich war es nicht mehr sie, die Angst hatte, sondern er. Die Vorstellung, dass er nun auch leiden sollte, so wie sie wegen ihm so viel leiden musste, erfüllte sie mit Genugtuung. Noch einmal atmete sie tief durch, dann war sie sich sicher. Sie holte aus zum Schlag. Doch als ob ihre Handbewegung einen Schalter ausgelöst hätte, hörten die beiden genau in diesem Moment ein lautes Krachen. Sie hielten inne. Und nun hatten sie beide Angst. Viel mehr Angst als je zuvor. Marios Angst vor den schmerzhaften Schlägen wich einer viel größeren Angst und Mutters Sorge über die Zukunft ihres Sohnes wich einer größeren Sorge: "Ist jemand eingebrochen?", flüsterte Mario. "Ich weiß es nicht", flüsterte sie zurück. Mario stellte sich die Frage, ob es sogar Alex war. Alex wusste nicht, wo er wohnte. Konnte es sein, dass er nun ausgerechnet bei ihnen einbräche? Lernte Mutter seinen Freund auf diese Weise kennen? Die Hand seiner Mutter sank wieder. Beide regten sich nicht und lauschten. Und mit einem Mal waren sie sich so nahe wie schon lange nicht mehr. Sie lauschten gemeinsam nach den leisesten Geräuschen, sie bangten gemeinsam vor Einbrechern. War noch jemand da? Lief jemand umher? Oder war nur etwas heruntergefallen?
Tom stand wie so oft spät auf, gegen 11 Uhr. Er frühstückte gemütlich in seiner kleinen Dachwohnung und dachte noch einmal über den Text nach, den er gestern verfasst hatte. Er hatte einen Vertrag mit einem Magazin, dem er immer wieder kleinere Geschichten oder Essays schrieb und dafür etwas Geld bekam. Viel bekam er dafür nicht, ansonsten hielt er sich finanziell mit Nachhilfeunterricht am Überleben. Sein Einkommen war gering, aber für seine bescheidenen Ansprüche reichte es und er hatte viel Zeit. Zeit zum Reflektieren, Nachdenken, Schreiben und Malen – sein zweites großes Hobby. Er genoss sein Leben, so wie es war.
Doch heute kam sein großer Bruder Jörg zu Besuch. Jörg lebte seit vielen Jahren in den USA, er hatte es dort weit gebracht. Tom ging zum Bahnhof um Jörg abzuholen. Jörg stieg aus dem Zug, winkte ihm zu, Tom kam und sie umarmten sich. Seit 10 Jahren hatten sie sich nicht mehr gesehen. Sie suchten erst einmal ein gutes Café auf, tranken dort Kaffee, aßen Kuchen und sprachen viel über die gemeinsame Kindheit und über ihre verstorbenen Eltern. Bei der Beerdigung ihres Vaters hatten sie sich das letzte Mal gesehen. Danach begann Jörgs unaufhaltsamer Karriereaufstieg. Er musste dabei so viel arbeiten, dass die Beziehungspflege auf der Strecke blieb. Immer seltener hatte Tom von ihm noch E-Mails erhalten. Immer wieder hatte er ihn angeschrieben und keine Antwort erhalten. Schließlich gab er es auf und es folgten Jahre der Funkstille. Doch vor zwei Wochen erhielt er überraschend eine E-Mail von Jörg, dass dieser nach Deutschland käme und auch ihn treffen wollte. Nun waren sie also wieder vereint, nachdem sie jahrelang völlig unterschiedlich gelebt hatten. Jörg erzählte voller Begeisterung von seinen Projekten, er war sichtlich stolz auf all das, was er schon bewegt hatte. Er lebte auf großem Fuß, hatte ein eigenes Haus, fuhr einen SUV und hatte sogar ein kleines Privatflugzeug. Danach war Tom an der Reihe und erzählte von den Texten, die er schrieb. Jörg wurde nachdenklich als er erfuhr, dass er die Texte nur alle paar Monate abschickte. "Davon kann man doch nicht leben" meinte er besorgt. Tom erzählte ihm, dass er noch Nachhilfe gab und dass ihm das Geld damit reichte. "Es reicht, aber wofür? Und wie lange?" "Ich brauche nicht so viel Geld, ich bin mit meinem Leben glücklich." "Ja aber du musst doch Altersvorsorge betreiben, musst Geld zur Seite legen." Tom sah das entspannter, wollte nicht immer an morgen sondern lieber an heute denken. Schließlich reagierte Jörg verstört, als Tom nichts mehr essen wollte, weil er ja erst gefrühstückt hatte. "Erst gefrühstückt? Wann bist du denn aufgestanden?" Tom sagte ihm um 11 Uhr und Jörg sah ihn schockiert an. "Stellst du dir denn keinen Wecker?" Tom wurde die Situation unangenehm, er wollte sich nicht die ganze Zeit für sein Leben rechtfertigen. Auf dem Weg zu Toms Wohnung belehrte ihn Jörg, dass er ja vielleicht mal eine Familie hätte und Menschen versorgen müsste. Er bräuchte doch einen handfesten Beruf. Malen und Schreiben könne man ja auch so in seiner Freizeit. Er konnte es nicht verstehen, dass Tom gar kein Interesse daran hatte, an seinem Leben etwas zu ändern. Schließlich öffnete Tom die Tür zu seiner Dachwohnung, woraufhin Jörg völlig die Fassung verlor. "In dieser Besenkammer lebst du? Und wie es hier aussieht, überhaupt nicht aufgeräumt, das Geschirr steht noch alles auf dem Tisch." "Na, da sieht man doch, dass hier jemand lebt" lachte Tom. "Ich finde das beschämend!" Er machte eine Pause und sah sich weiter um. "Hier sieht es aus, wie, wie … wie bei einem 13-jährigen, der nichts mit seinem Leben anfangen kann und der noch nicht gelernt hat, selber aufzuräumen!" "Ich kann mit meinem Leben viel anfangen …" "Das hier ist einfach nur peinlich! Du kommst doch aus gutem Haus, unsere Eltern haben uns doch ein geordnetes Leben beigebracht. Nee, hier übernachte ich nicht, ich buche mir ein Hotel – nein, ich fahre ab. Ich halte das nicht aus. Du bist ein echter Taugenichts!" Tom suchte nach Worten, wusste nicht, was er seinem Bruder sagen sollte, der bereits seinen Koffer genommen hatte und zur Treppe ging. Hinterherlaufen und zum Bleiben anbetteln wollte er ihn nicht, aber er wollt die Beziehung auch nicht beenden. Jörg ging die Treppe hinunter, während Tom immer noch nicht wusste, was er sagen sollte. Schließlich hörte er die Haustür zukrachen, während er immer noch unschlüssig herumstand und überlegte, was er hätte sagen sollen. Schließlich zog er sich verletzt in seine Wohnung zurück, setzte sich in seinen billigen Sessel und ließ die Gespräche in Gedanken noch einmal Revue passieren. Er dachte die ganze Zeit, was er hätte anderes sagen sollen und malte sich aus, wie sein Bruder darauf wohl reagiert hätte. Schließlich inspirierte ihn die Auseinandersetzung zu einer kleinen Geschichte, die er Jörg schicken und später auch veröffentlichen wollte. Und es war genau diese Geschichte, die ihn zwar nicht reich, dafür aber sehr bekannt machen sollte. Die Geschichte vom Fischjungen:
Jörg war 8 Jahre alt und durfte zum ersten Mal alleine zum See baden gehen. Darauf war er stolz und er wollte sich an alles halten, was seine Eltern ihm beigebracht hatten. So hatten sie ihm beigebracht, dass er außerhalb des Wassers stets ein T-Shirt und eine Mütze tragen sollte. Sie schützten ihn vor der Sonne. Und sie hatten ihm auch beigebracht, nicht zu tief in den See hinein zu schwimmen. Nun stand er vor dem See, bekleidet mit Sonnenhut, T-Shirt, kurzer Hose und Sandalen. Er begann eine Sandburg zu bauen, da landete ein Vogel neben ihm. Der Vogel trug weder T-Shirt noch Sonnenhut. "Wie unverständig dieser Vogel doch ist" dachte sich Jörg. Er weiß nicht, dass man sich bei diesem heißen Wetter bekleiden sollte. Er überlegte sich, ob der Vogel ihn vielleicht doch verstehen könnte und sagte zu ihm: "Du solltest dir eine Kopfbedeckung aufsetzen und irgendetwas über den Körper anziehen. Denn es ist sehr heiß und du brauchst etwas, um dich vor der Sonne zu schützen." Doch der Vogel sah ihn nur stumm an und flog dann weg. "Du bist dumm!" rief ihm Jörg hinterher. Inzwischen war es so heiß geworden, dass er eine Abkühlung brauchte. Er zog seine Sandalen aus und ging im flachen Wasser spazieren. Er lief immer tiefer hinein, so tief, dass das Wasser fast die Hose berührte. Es störte ihn nicht, wenn seine Kleidung nass wurde, nicht bei der Hitze. Natürlich wollte er sich an die Regeln halten, die seine Eltern ihm für das Wasser beigebracht hatten. Letztes Jahr war er einmal zu weit geschwommen, war in eine Strömung geraten aus der er mit eigener Kraft nicht mehr herausschwimmen konnte. Da waren ihm seine Eltern mit einem Ruderboot zur Hilfe geeilt und hatten ihn gerettet. Seit damals war ihm klar, dass Wasser gefährlich war. Und nun sah er in dem Wasser kleine Fische schwimmen, die tief in den See hineinschwammen. Er wollte sie warnen, rief ihnen zu, dass das gefährlich sei, weil es dort Strömungen gebe, gegen die man nicht ankäme. Doch die Fische hörten nicht auf ihn. "Ihr seid so dumm, so unvernünftig!" rief er ihnen hinterher. Er lief noch etwas tiefer ins Wasser und beobachtete sie weiter. Sicherlich ertrinken sie alle, dachte er sich mit einer Mischung aus Mitleid und Geringschätzung.
Auf einmal stolperte er über einen seltsamen Stein, der in zahlreichen Farben funkelte und flog mit all seinen Kleidern ins Wasser. Zuerst wollte er instinktiv auftauchen, aber dann merkte er, dass es ihm hier unten im Wasser ja richtig gut gefiel. Er schwamm so leicht wie noch nie – wären da nicht all die komischen weichen Teile gewesen, die vor ihm lagen. Er schwamm gegen lauter Hindernisse unter Wasser, schwamm um sie herum und gegen sie an, bis sie endlich alle hinter ihm lagen. Nun sah er und er sah so gut unter Wasser wie noch nie zuvor. Er dreht sich um – verwundert, so lange unter Wasser bleiben zu können – und sah seine eigenen Kleidungsstücke herumschwimmen. Er wollte nach ihnen greifen, aber der Arm konnte sich gar nicht so weit bewegen. Mehr noch: Er sah seine Arme nicht einmal. Er wollte auftauchen, aber aus irgendeinem unerklärlichen Grund hielt er das für lebensgefährlich und ließ es bleiben. Schließlich schaffte er es, mit seinen Augen nach unten zu schielen und stellte fest, dass er selber ein Fisch war. Die Kleidung hatte ihm nicht mehr gepasst. Mehr noch, sie hatte ihn gehindert. Andere Fische, die ihm ähnlich sahen, schwammen zu ihm. Durch ein sonderbares Geblubber konnte er sie verstehen – und sie verstanden ihn! Sie luden ihn ein, zu einer Nahrungsquelle zu schwimmen und er schwamm ihnen ohne Zögern hinterher – hinein in das tiefe Wasser, was seine Eltern ihm verboten hatten. Und das Schwimmen unter Wasser machte ihm große Freude und strengte ihn überhaupt nicht an. Er lebte auf einmal ein ganz anderes Leben, in dem alles anders war und in dem andere Gesetze galten. Nie und nimmer wollte er seinen neuen Freunden Ratschläge geben, wohin sie zu schwimmen hatten. Viel ratsamer hielt er es, auf sie zu hören und von ihnen zu lernen, wie man hier unter Wasser lebt.
Und so kamen sie zu einer unterirdischen Pflanzenwelt. Hier fraß er sich mit seinen neuen Freunden an schaukelnden Algen und weichen Wasserpflanzen satt, die Pflanzen schmeckten ihm kostbar. Doch während sie fraßen, änderte sich die Strömung auf einmal leicht und ein dunkler Schatten fiel über diesen fressenden Fischschwarm. Jörg sah, wie seine Freunde neben ihm kurz zitterten und dann blitzschnell zur Seite wegzuckten. Dann hörte er auf einmal einen lauten Brummton, ein großer Körper durchpflügte das Wasser. Und er spürte durch all die Bewegungen und Strömungen ganz deutlich einen Impuls, der nur eines bedeuten konnte: Gefahr! Ein paar kleinere Fische verdichteten sich und mit einem Mal löste sich der Schwarm in alle Richtungen auf. Hinter ihnen kamen große, dunkle Schatten. Jörg sah flache, breite Mäuler mit spitzen Zähnen: Raubfische, die sich mit großer Eleganz und Zielstrebigkeit ihnen immer mehr näherten. Einige von Jörgs Freunden wurden gepackt und fortgerissen. Inzwischen hatte sich der Fischschwarm wieder zusammengefunden. Einige Fische gaben durch Vibrationen den anderen Signale wie Richtungswechsel oder Beschleunigung. Auf diese Weise versuchten sie, die Verfolger abzuschütteln: Der Schwarm schlug Haken, änderte immer wieder die Richtung und beschleunigte dramatisch. Jörg folgte ihnen instinktiv. Derweil nahmen die großen Fische immer wieder schwächere Fische am Rande des Schwarms ins Visier. Doch Jörgs Kraft ließ langsam nach. Schließlich war er selber der letzte, dicht gefolgt von einem Raubfisch. Er streifte auf einmal mit seinem Fischkörper etwas und blieb stecken. Dann spürte er, wie ihm die Luft wegblieb. Es wurde dunkel um ihn herum und er stellte sich die Frage, ob er sich schon im Maul des Fisches befand. Er sah nach hinten und erkannte durch einen getrübten Blick, dass der Raubfisch auf einmal abdrehte.
Jörg war verwundert und tauchte instinktiv auf. Hier wurde ihm bewusst, dass er wieder ein Menschenjunge war. Noch einmal sah er zu den Fischen, sah sie und ihr Verhalten nun mit ganz anderen Augen – mit ihren eigenen. Am Seeboden sah er den seltsamen glitzernden Stein, den hatte er als Fisch gestreift. Dann drehte er sich wieder zum Ufer. Dort lagen seine Kleidungsstücke. Sie waren von den Wellen an Land gespült worden. Als Fisch hatten sie ihn gestört, aber in seiner jetzigen Haut brauchte er sie wieder. Er ging an Land und zog sich an. Die Kleider waren klatschnass, aber was machte das schon bei der Hitze. Wieder landete ein Vogel neben ihm. Aber dieses Mal würde er ihm nicht mehr raten, sich Kleidung anzuziehen. Er dachte darüber nach, wie man sich als Vogel fühlt und was man als Vogel benötigt. Aber solange man kein Vogel war, konnte man diese Frage kaum beantworten.
Jörgs Antwort an Tom auf diese Geschichte war eine denkbar kurze E-Mail:
Hallo Tom,
man merkt, dass du mit deiner Zeit nichts Sinnvolles anzufangen weißt.
Jörg